Betriebliche Übung: Berufen Sie sich auf Ihr Gewohnheitsrecht!

Viele Arbeitnehmer dürften noch nie von der sogenannten betrieblichen Übung gehört haben – und das, obwohl sie aus dem Arbeitsalltag kaum wegzudenken ist. Das Prinzip ist einfach: Gewährt Ihr Chef Ihnen über Jahre hinweg eine bezahlte Raucherpause am Tag oder zahlt er Ihnen seit jeher Weihnachtsgeld, kann er dies nicht einfach ab sofort unterlassen.

Autor:  Redaktion DAHAG Rechtsservices AG.

Betriebliche Übung: Das Wichtigste im Überblick

Was ist die betriebliche Übung?

Bei der betrieblichen Übung im Arbeitsrecht gilt, dass wiederholt, gleichförmig und vorbehaltlos gewährte Leistungen einen rechtlichen Anspruch des Arbeitnehmers begründen. Das heißt: Wurde eine Leistung über Jahre hinweg erbracht, darf sie nicht plötzlich verwehrt werden. Eine spezielle Gesetzesgrundlage gibt es für die Betriebsübung – umgangssprachlich auch Gewohnheitsrecht genannt – nicht. Stattdessen wird sie von der Rechtsprechung definiert.

Die Definition des Bundesarbeitsgerichts beschreibt die betriebliche Übung als

„regelmäßige Wiederholung bestimmter gleichförmiger Verhaltensweisen des Arbeitgebers, aufgrund derer die Arbeitnehmer darauf vertrauen können, dass ihnen eine bestimmte Vergünstigung auf Dauer gewährt wird“ (BAG-Urteil vom 12. Januar 1994, Az. 5 AZR 41/93).

Was bedeutet das in der Praxis?

So umständlich die Definition des BAG auch klingen mag, so einfach ist das Prinzip der betrieblichen Übung: Wenn Ihnen Ihr Chef über mehrere Jahre hinweg immer wieder dieselbe Leistung gewährt, kann er diese nicht plötzlich einstellen.

Hier ein Beispiel: Zwischen 2010 und 2017 erhielt Herr Müller Weihnachtsgeld in Höhe eines halben Bruttolohns. Diese Leistung wurde von Herrn Müllers Chef freiwillig erbracht; im Arbeitsvertrag war sie nicht verankert. Da das Geschäftsjahr 2018 schleppend lief, entschied sich Herr Müllers Arbeitgeber, das Weihnachtsgeld in diesem Jahr zu streichen. Da es sich dabei jedoch um eine regelmäßig und gleichförmig erbrachte Leistung handelt, greift die betriebliche Übung. Immerhin vertraut Herr Müller darauf, dass er auch in diesem Jahr einen halben Bruttolohn zusätzlich bekommt. Herr Müller hat dementsprechend einen rechtlichen Anspruch auf das Weihnachtsgeld.

Die Betriebsübung findet für alle Angelegenheiten Anwendung, die im Arbeitsvertrag geregelt werden könnten, dort aber nicht geregelt sind. Hier sind einige Beispiele:

  • Zahlung von Gratifikationen wie Weihnachts- oder Urlaubsgeld
  • Zahlung von Essensgeld
  • Fahrtkostenzuschüsse
  • Übernahme von Fortbildungskosten
  • Bereitstellung eines Firmenparkplatzes
  • Gestattung privater Internet- und/oder Telefonnutzung
  • Freistellung an bestimmten Tagen (z. B. Heiligabend, Silvester, Rosenmontag)
  • Bezahlte Pausen
  • Gewährung von Jubiläumszuwendungen
  • Für den Arbeitnehmer vorteilhafte Anwendungen bestimmter Tarifverträge

Die Rechtsprechung geht davon aus, dass eine Leistung über mindestens drei Jahre erbracht werden musste, damit die betriebliche Übung greift. Erst ab dem vierten Jahr ergibt sich ein rechtlicher Anspruch darauf.

Gilt die betriebliche Übung auch für neue Mitarbeiter?

Ja, Ansprüche aus der betrieblichen Übung gelten im Grunde auch für neue Mitarbeiter. Hat man seinen Job gerade erst angetreten, muss man nicht erst drei Jahre lang warten, um sich auf die Betriebsübung berufen zu können. Das heißt: Duldet Ihr Chef bei allen anderen Angestellten seit mehr als drei Jahren die private Internetnutzung und trat so die betriebliche Übung ein, kann er Ihnen keine Abmahnung für das private Surfen aushändigen. Sie können sich ebenfalls auf Ihr Gewohnheitsrecht berufen, selbst wenn Sie erst weniger als drei Jahre im Betrieb tätig sind.

Allerdings hat der Arbeitgeber das Recht, derartige Ansprüche per Arbeitsvertrag auszuschließen. Dies ist allerdings nur dann möglich, wenn der Ausschluss sachlich gerechtfertigt ist. Ohne Angabe von Gründen geht das nicht.

Welche Voraussetzungen gibt es für das Einsetzen der betrieblichen Übung?

Die Rechtsprechung geht davon aus, dass eine Leistung über mindestens drei Jahre erbracht werden musste, damit die betriebliche Übung greift. Erst ab dem vierten Jahr ergibt sich ein rechtlicher Anspruch darauf.

Zudem besteht kein Rechtsanspruch auf Grundlage der betrieblichen Übung, wenn die jeweilige Leistung nur einem einzelnen Arbeitnehmer gewährt wurde. Sie muss den überwiegenden oder zumindest einem abgrenzbaren Teil der Belegschaft (zum Beispiel eine ganzen Abteilung) betreffen.

Wenn es eine vertragliche Vereinbarung gibt, hat diese Vorrang vor Ansprüchen aus der betrieblichen Übung.

Beispiel: Frau Meisters Arbeitsvertrag sieht eine tägliche bezahlte Pause von 15 Minuten vor. In der Praxis gewährt Frau Meisters Chef ihr aber seit Jahren eine Pause von 30 Minuten. Aufgrund von dringenden Deadlines weist er Frau Meister darauf hin, dass sie ab sofort nur noch die vertraglich vereinbarten 15 Minuten nutzen darf. Frau Meister hat hier keinen Anspruch aus der betrieblichen Übung: Die Vertragsvereinbarung hat Vorrang vor der betrieblichen Übung.

Betriebliche Übung: Ab wann gilt eine Leistung als regelmäßig und gleichförmig?

Viele Arbeitgeber versuchen zu verhindern, dass es zu Ansprüchen durch die Betriebsübung kommt. So wurde in der Vergangenheit häufig zu Trick 17 gegriffen, vor allem was die Zahlung von Einmalleistungen betrifft. Arbeitgeber beriefen sich darauf, dass eine Leistung nicht gleichförmig ist, wenn das Weihnachtsgeld in unterschiedlicher Höhe ausgezahlt wird.

Dem schob das Bundesarbeitsgericht 2015 einen Riegel vor: Auch wenn die Gratifikation immer unterschiedlich hoch ausfällt, handelt es sich laut BAG um eine regelmäßig und gleichförmig erbrachte Leistung. Wird die Gratifikation mindestens drei Jahre infolge ausgezahlt, haben Arbeitnehmer ab dem vierten Jahr einen rechtlichen Anspruch darauf (BAG-Urteil vom 13. Mai 2015, Az. 10 AZR 266/14).

Zahlt ein Arbeitgeber in den Jahren 2013 und 2014 Weihnachtsgeld, im Jahr 2015 aber nicht, entsteht keine betriebliche Übung. Selbst wenn er im Folgejahr wieder Weihnachtsgeld gewährt, haben seine Angestellten keinen rechtlichen Anspruch darauf. Die Leistung wurde nicht regelmäßig erbracht.

Gut zu wissen: Unterschiedlich hohe Zahlungen

Bei unterschiedlich hohen Zahlungen hat der Arbeitnehmer zwar einen Anspruch auf die weitere Zahlung, doch darf der Arbeitgeber deren Höhe bestimmen. Allerdings muss er diese nach „billigem Ermessen“ festlegen: Eine Zahlung in Höhe eines „symbolischen Euros“ wäre nicht angemessen.

4 wirksame Maßnahmen: So kann Ihr Arbeitgeber die betriebliche Übung verhindern

Tritt die betriebliche Übung ein, kann das für viele Arbeitgeber von Nachteil sein. Immerhin haben die Angestellten dann einen rechtlichen Anspruch auf die Erbringung einer Leistung, die so im Arbeitsvertrag nicht vereinbart wurde. Aus diesem Grund versuchen zahlreiche Arbeitgeber die Betriebsübung zu umgehen oder rückgängig zu machen. Die folgenden drei Maßnahmen gegen die betriebliche Übung werden in den meisten Fällen als wirksam anerkannt.

Freiwilligkeitsvorbehalt

Die betriebliche Übung kann durch den sogenannten Freiwilligkeitsvorbehalt per Arbeitsvertrag ausgeschlossen werden, nämlich indem der Arbeitgeber darauf pocht, dass die jeweilige Leistung freiwillig erbracht wird und keinen rechtlichen Anspruch begründet. Eine derartige Klausel könnte wie folgt lauten:

„Die Leistung erfolgt ohne Anerkennung einer Rechtspflicht.“

„Die Leistung begründet keinen Rechtsanspruch für die Zukunft.“

Der Freiwilligkeitsvorbehalt beugt der Betriebsübung vor und verhindert das Entstehen rechtlicher Ansprüche der Arbeitnehmer.

Einvernehmliche Aufhebung

Ihr Arbeitgeber kann die betriebliche Übung mithilfe einer einvernehmlichen Aufhebung rückgängig machen. Das bedeutet, dass Sie dem zustimmen müssen. Einseitig kann er die Betriebsübung nicht für nichtig erklären.

Änderungskündigung

Will Ihr Arbeitgeber essenzielle Teile Ihres Arbeitsvertrags abändern – Ihnen beispielsweise Ihre Ansprüche aus der betrieblichen Übung absprechen, kann er dies mithilfe einer Änderungskündigung tun. Dabei bietet Ihr Chef Ihnen die Fortsetzung Ihres Arbeitsverhältnisses zu geänderten Konditionen an.

Wie Sie richtig auf eine Änderungskündigung reagieren, erfahren Sie hier: Änderungskündigung – Infos und Rechtsberatung

Widerruf der betrieblichen Übung

Hat Ihr Chef sich ein ausdrückliches Widerrufsrecht vorbehalten, kann er der betrieblichen Übung wirksam widersprechen. Ohne einen derartigen Vorbehalt ist der Widerspruch aber nicht möglich.

4 unwirksame Maßnahmen: So kann Ihr Arbeitgeber die betriebliche Übung nicht verhindern

Es gibt zahlreiche Maßnahmen gegen die betriebliche Übung, die zwar nicht (mehr) wirksam sind, aber noch immer häufig von Arbeitgebern angewandt werden. Immerhin gilt: Wenn sich niemand dagegen beschwert, entstehen für den Arbeitgeber auch keine Probleme. Genau aus diesem Grund ist es wichtig, dass Sie als Arbeitnehmer Ihre Rechte kennen und genau wissen, wann ein Gewohnheitsrecht nicht einfach so abgeschafft werden darf.

Anfechtung wegen Irrtums

Immer wieder berufen sich Arbeitgeber auf § 119 BGB, wonach eine Willenserklärung aufgrund eines Irrtums angefochten werden kann. Was die betriebliche Übung betrifft, ist dieser Paragraf allerdings nicht von Belang: Die Betriebsübung setzt nämlich keine Willenserklärung voraus. Allein das Verhalten Ihres Chefs begründet Ihren rechtlichen Anspruch. Er muss sich auch nicht darüber bewusst sein, dass er durch das jährliche Zahlen von Weihnachtsgeld das Eintreten der betrieblichen Übung veranlasst: Bewirkt das Verhalten Ihres Chefs, dass Sie sich auf die jeweilige Leistung verlassen, können Sie sich (wenn die oben genannten Kriterien erfüllt sind) auf die betriebliche Übung berufen.

Ausnahme: Eine Ausnahme besteht dann, wenn Ihr Chef die jeweilige Leistung erbringt, weil er fälschlicherweise davon ausgeht, dass er sie aufgrund Ihres Arbeitsvertrages erbringen muss. Lassen Sie ihn in dem Glauben, ist ihr Anspruch nicht schützenswert.

Entkräften der betrieblichen Übung durch Betriebsvereinbarung

Eine Betriebsvereinbarung – also ein Abkommen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat – kann das Eintreten der betrieblichen Übung nicht rückgängig machen. Grund dafür ist, dass die Ansprüche aus der Betriebsübung zum Einzelvertrag gehören. Dieser kann durch den Betriebsrat nicht zu Ihren Ungunsten abgewandelt werden.

Man spricht hier auch vom Günstigkeitsprinzip: Betriebsvereinbarungen dürfen nur solche Regelungen enthalten, die für den Arbeitnehmer im Vergleich zu den Konditionen in seinem Arbeitsvertrag Vorteile bieten.

Gegenläufige betriebliche Übung

Viele Arbeitgeber fallen dem folgenden Irrglauben zum Opfer: Wenn sie so lange entgegen der bereits bestehenden betrieblichen Übung handeln und sich kein Arbeitnehmer beschwert, stellen sie wirksam eine gegenläufige betriebliche Übung auf.

Zur Veranschaulichung: Herr Schwarz hat seinen Angestellten bisher immer an Heiligabend und Silvester bezahlt freigegeben. Diese Regelung nimmt er nun zurück. Seine Annahme: Wenn sich innerhalb von drei Jahren niemand beschwert, stellt er eine gegenläufige betriebliche Übung auf, wonach seine Beschäftigten an Heiligabend und Silvester – gemäß dem neuen Gewohnheitsrecht – arbeiten müssen.

Bis 2009 wäre Herr Schwarz damit durchgekommen. Im März 2009 urteilte das Bundesarbeitsgericht aber, dass eine solche gegenläufige betriebliche Übung nicht wirksam ist. Das stillschweigende Hinnehmen der neuen Regelung stelle nämlich keine Willenserklärung und dementsprechend kein Einverständnis der Mitarbeiter dar (BAG-Urteil vom 18. März 2009, Az. 10 AZR 281/08).

Doppelte Schriftformklausel

Weil ein Arbeitsvertrag auch mündlich geschlossen und verändert werden kann, fügen viele Arbeitgeber Ihren Verträgen eine sogenannte doppelte Schriftformklausel zu. Diese könnte so aussehen: „Änderungen und Ergänzungen des Vertrages bedürfen der Schriftform. Die Aufhebung der Schriftformklausel bedarf ebenfalls der Schriftform.“

Durch diese Klausel wollten Arbeitgeber in der Vergangenheit sicherstellen, dass nur eine schriftliche Änderung der Arbeitsbedingungen wirksam ist. De facto könnten Ansprüche aus der betrieblichen Übung so ausgeschlossen werden. Seit 2008 hält aber kaum eine doppelte Schriftformklausel der AGB-Kontrolle vor Gericht stand. Sie wird daher meist für unwirksam erklärt (BAG-Urteil vom 20. Mai 2008, Az. 9 AZR 382/07).


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