HartzIV: Haushaltsgemeinschaft mit Eltern?
Ich bin 100 % schwerbehindert (fast gehörlos), 50 Jahre alt, alleinstehend und noch arbeitslos (ALG I) und wohne bei meinen Eltern (beide Rentner)
in einem Einfamilienhaus in einer sogenannten Hausgemeinschaft.
Frage: Wie weit müssen meine Eltern für mich einstehen bzw. was wird von Ihnen verlangt, wenn ich nun Harz IV beantragen muss. Müssen auch Sie sich voll offenbaren und z. B. Ihre Einkommen und Vermögen darlegen und evtl. in welcher Höhe für mich bezahlen?
Der von Ihnen verwendete Begriff der Haushaltsgemeinschaft findet seinen Niederschlag in § 9 Absatz 5 SGB II.
In diesem Paragraphen wird für folgenden Fall eine gesetzliche, aber auch widerlegbare Vermutung aufgestellt. Es wird danach vermutet, dass und soweit Leistungsberechtigte mit Verwandten oder Verschwägerten in einer Haushaltsgemeinschaft leben, die Leistungsberechtigten von den Verwandten Leistungen in dem Umfang erhalten, wie dies nach dem Einkommen und Vermögen der Verwandten erwartet werden kann. Liegen die Voraussetzungen des Paragraphen demnach vor, hat dies zur Folge, dass die Leistungen der Angehörigen an den Hilfebedürftigen bei diesem anzurechnen sind.
Bedeutung hat diese Vorschrift insbesondere in einer Konstellation wie bei Ihnen, soweit der Hilfebedürftige mit Angehörigen zusammen lebt, ohne dass die Voraussetzungen einer sog. Bedarfsgemeinschaft vorliegen.
Damit zu Gunsten des Jobcenter die vorgenannte Vermutung gilt, müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein:
–Zusammenleben des Leistungsberechtigten mit Verwandten oder Verschwägerten in einer Haushaltsgemeinschaft
–Leistungen können von der verwandten oder verschwägerten Person nach ihrem Einkommen und Vermögen erwartet werden
Eine Haushaltsgemeinschaft liegt vor, wenn Personen in einem gemeinsamen Haushalt zusammen leben und gemeinsam, „aus einem Topf“ wirtschaften. Mithin reicht für die Unterhaltsvermutung in § 9 Abs 5 SGB II gerade nicht aus, wenn Verwandte oder Verschwägerte in einem Haushalt lediglich zusammen wohnen. Vielmehr muss über die bloße Wohngemeinschaft hinaus der Haushalt im Sinne einer Wirtschaftsgemeinschaft gemeinsam geführt werden. Die Anforderungen an das gemeinsame Wirtschaften gehen daher über die gemeinsame Nutzung von Bad, Küche und ggf Gemeinschaftssräumen hinaus. Auch der in Wohngemeinschaften häufig anzutreffende gemeinsame Einkauf von Grundnahrungsmitteln, Reinigungs- und Sanitärartikeln aus einer von allen Mitbewohnern zu gleichen Teilen gespeisten Gemeinschaftsskasse begründet noch keine Haushaltsgemeinschaft.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang , dass die Beweislast für eine bestehende Haushaltsgemeinschaft dem Leistungsträger obliegt.
Insofern tritt die gesetzliche Vermutung der gegenseitigen Unterstützung gemäß § 9 Absatz 5, erst dann ein, wenn wirklich versteht, dass eine Haushaltsgemeinschaft zwischen ihnen und ihren Eltern vorliegt. Nach der Rechtsprechung lässt sich allein aus dem Zusammenleben nicht schon auf eine Haushaltsgemeinschaft schließen.
Weitere Voraussetzung für das Eingreifen der Vermutung gemäß § 9 Absatz 5 SGB II ist, dass der Leistungsberechtigte mit Verwandten und verschwägerten im Sinne der Vorschrift lebt. Dies ist bei ihnen aber insofern kein Hinderungsgrund, weil Eltern eindeutig unter den Begriff Verwandten eines Leistungsberechtigten im Sinne des § 1589 BGB fallen.
Kann das Jobcenter die vorgenannten Voraussetzungen im Zweifel beweisen mit der Folge dass die Vermutungswirkung eingreift, geht das Gesetz davon aus, dass der Leistungsberechtigte von den mit ihm zusammenlebenden Verwandten auch tatsächlich Leistungen erhält soweit diese Verwandten nach ihrem Einkommen und Vermögen leistungsfähig sind.
Die Bestimmung der Reichweite der Vermutung des § 9 Absatz 5 SGB II, also der Frage des Umfangs der zu vermutenden Leistungen von dem Verwandten an den Berechtigten, ist relativ kompliziert durch den Gesetzgeber gestaltet worden.
Das Gesetz nimmt zunächst auf die Einkommens und Vermögensverhältnisse bezug, aus denen die Leistungen erfolgen. Es kommt also zu einer Prüfung der Einkommens und Vermögensverhältnisse bei den Verwandten, hier also ihrer Eltern. In § 1 Absatz 2 ALG II-Verordnung wird zu Gunsten der verwandten Person zunächst ein Grundfreibetrag festgelegt. Danach behält die Person, von der angenommen wird, dass sie den Leistungsberechtigten unterhält (Eltern an Sie) einen Selbstbehalt, der sich zusammensetzt aus dem doppelten Regelbedarfssatz (382 € x 2 = 764 €) und den anteiligen Kosten für Miete und Heizung sowie darüber hinausgehend 50% der diesen Betrag übersteigenden bereinigten Einnahmen.
Für die Frage des Vermögenseinsatzes gilt nach § 7 Absatz 2 ALG II-V der gleiche Vermögensfreibetrag, der für Leistungsberechtigte, also für Sie, nach § 12 Absatz 2 und 3 SGB II gilt.
§ 12 SGB II Zu berücksichtigendes Vermögen
(1) Als Vermögen sind alle verwertbaren Vermögensgegenstände zu berücksichtigen.
(2) Vom Vermögen sind abzusetzen
ein Grundfreibetrag in Höhe von 150 Euro je vollendetem Lebensjahr für jede in der Bedarfsgemeinschaft lebende volljährige Person und deren Partnerin oder Partner, mindestens aber jeweils 3 100 Euro; der Grundfreibetrag darf für jede volljährige Person und ihre Partnerin oder ihren Partner jeweils den nach Satz 2 maßgebenden Höchstbetrag nicht übersteigen,
1a.
ein Grundfreibetrag in Höhe von 3 100 Euro für jedes leistungsberechtigte minderjährige Kind,Altersvorsorge in Höhe des nach Bundesrecht ausdrücklich als Altersvorsorge geförderten Vermögens einschließlich seiner Erträge und der geförderten laufenden Altersvorsorgebeiträge, soweit die Inhaberin oder der Inhaber das Altersvorsorgevermögen nicht vorzeitig verwendet,
geldwerte Ansprüche, die der Altersvorsorge dienen, soweit die Inhaberin oder der Inhaber sie vor dem Eintritt in den Ruhestand aufgrund einer unwiderruflichen vertraglichen Vereinbarung nicht verwerten kann und der Wert der geldwerten Ansprüche 750 Euro je vollendetem Lebensjahr der erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person und deren Partnerin oder Partner, höchstens jedoch jeweils den nach Satz 2 maßgebenden Höchstbetrag nicht übersteigt,
ein Freibetrag für notwendige Anschaffungen in Höhe von 750 Euro für jeden in der Bedarfsgemeinschaft lebenden Leistungsberechtigten.
Bei Personen, dievor dem 1. Januar 1958 geboren sind, darf der Grundfreibetrag nach Satz 1 Nummer 1 jeweils 9 750 Euro und der Wert der geldwerten Ansprüche nach Satz 1 Nummer 3 jeweils 48 750 Euro,
nach dem 31. Dezember 1957 und vor dem 1. Januar 1964 geboren sind, darf der Grundfreibetrag nach Satz 1 Nummer 1 jeweils 9 900 Euro und der Wert der geldwerten Ansprüche nach Satz 1 Nummer 3 jeweils 49 500 Euro,
nach dem 31. Dezember 1963 geboren sind, darf der Grundfreibetrag nach Satz 1 Nummer 1 jeweils 10 050 Euro und der Wert der geldwerten Ansprüche nach Satz 1 Nummer 3 jeweils 50 250 Euro
nicht übersteigen.
(3) Als Vermögen sind nicht zu berücksichtigenangemessener Hausrat,
ein angemessenes Kraftfahrzeug für jede in der Bedarfsgemeinschaft lebende erwerbsfähige Person,
von der Inhaberin oder dem Inhaber als für die Altersvorsorge bestimmt bezeichnete Vermögensgegenstände in angemessenem Umfang, wenn die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person oder deren Partnerin oder Partner von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit ist,
ein selbst genutztes Hausgrundstück von angemessener Größe oder eine entsprechende Eigentumswohnung,
Vermögen, solange es nachweislich zur baldigen Beschaffung oder Erhaltung eines Hausgrundstücks von angemessener Größe bestimmt ist, soweit dieses zu Wohnzwecken behinderter oder pflegebedürftiger Menschen dient oder dienen soll und dieser Zweck durch den Einsatz oder die Verwertung des Vermögens gefährdet würde,
Sachen und Rechte, soweit ihre Verwertung offensichtlich unwirtschaftlich ist oder für den Betroffenen eine besondere Härte bedeuten würde.
Für die Angemessenheit sind die Lebensumstände während des Bezugs der Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitssuchende maßgebend
Sollte es bei ihren Eltern trotz Berücksichtigung der Einkommensfreibetragsgrenzen zu Einkommen oberhalb dieser Grenze kommen kann trotzdem eine Konstellation gegeben sein, bei denen eine Berücksichtigung des elterlichen Einkommens unter Umständen unterbleiben kann. Dies gilt zum Beispiel dann, wenn der Angehörige, hier als ihre Eltern, gegenüber weiteren Dritten nach bürgerlichem Recht vorrangig zum Unterhalt verpflichtet ist. Eine weitere Ausnahme soll dann gelten, wenn die Haushaltsgemeinschaft durch die Heranziehung insgesamt gefährdet würde. Ob eine solche Konstellation bei Ihnen vorliegt kann ich derzeit nicht abschließend beurteilen. Möglicherweise ergibt sich hieraus jedoch ein weiterer Ansatz für den Fall, dass vorliegend die Vermutungswirkung zu ihren Lasten eingreifen würde und die Gefahr besteht, dass das Einkommen und Vermögen ihrer Eltern nach der Auffassung des Jobcenters berücksichtigt werden soll.
Wie jede gesetzliche Vermutung kann diese grundsätzlich auch durch den Leistungsberechtigten widerlegt werden. Die Vermutung des § 9 Absatz 5 SGB II ist demnach widerlegt, wenn der Beweis erbracht wird, dass die vom Gesetz vermutete Tatsache- hier also Leistung von Unterhalt durch ihre Eltern an Sie- tatsächlich nicht vorliegt. Ob und wann die gesetzliche Vermutung als widerlegt angesehen werden kann, ist nach den konkreten Gesamtumständen des Falls zu entscheiden. Sie müssen danach glaubhaft und zweifelsfrei versichern, dass Sie keine oder ausreichende Leistungen zum Lebensunterhalt erhalten. Hierfür müssen nachvollziehbare und überprüfbare Tatsachen behauptet und glaubhaft gemacht werden, damit die Richtigkeit der gesetzlichen Vermutung erschüttert werden kann. Dies erfordert nach meiner Auffassung im Einzelfall durchaus eine anwaltliche Beratung.
Zu Ihrer weiteren Frage im Hinblick auf die Auskunftspflicht Ihrer Eltern ist zu sagen, dass die in Haushaltsgemeinschaft mit einem Leistungsberechtigten lebenden Mitglieder grundsätzlich Auskunfts- und Mitwirkungsrechten treffen. Der Grundsatz, dass die Mitwirkungspflichten grundsätzlichen nur den Leistungsberechtigten selbst treffen, wird durch § 60 SGB II aufgehoben. Allerdings ist auch hierfür Voraussetzung, dass die Vermutungswirkung im Sinne des § 9 Absatz 5 SGB II vorliegt. Hinsichtlich der Frage, ob die Vermutungswirkung bei Ihnen anzunehmen ist, verweise ich auf meine obigen Ausführungen.
Abschließend möchte ich noch auf eine Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 27.1.2009 hinweisen, bei der es darum ging, ob der Kläger in diesem Verfahren in einer Haushaltsgemeinschaft mit seinem Vater lebte und deshalb vermutet werden konnte, dass der Kläger Leistungen von seinem Vater erhält.
Im Ergebnis lehnte das Bundessozialgericht eine Anrechnung von Zahlungen des Vaters an den Kläger gemäß § 9 Absatz 5 SGB II ab. Für die Unterhaltsvermutung des § 9 Absatz 5 SGB II, so das Bundessozialgericht, reiche es nicht aus, wenn Verwandte oder Verschwägerte in einem Haushalt lediglich zusammenwohnen. Vielmehr muss über die bloße Wohngemeinschaft hinaus der Haushalt im Sinne einer Wirtschaftsgemeinschaft gemeinsam geführt werden. Das Vorliegen einer solchen Haushaltsgemeinschaft ist die erste Voraussetzung dafür dass die gesetzliche Vermutung der Leistungsgewährung durch im Haushalt lebende Angehörige eingreifen kann. Ihre Feststellung durch den Grundsicherungsträger ist Voraussetzung für das Eingreifen der Vermutung.
Wie Sie sehen, handelt es sich bei der Konstellation der Haushaltsgemeinschaft um eine sehr komplexe Materie. Man sollte meiner Meinung nach unbedingt nicht zu schnell von einer Haushaltsgemeinschaft im rechtlichen Sinne ausgehen. Im Zweifel muss das Jobcenter das Vorliegen einer solchen Haushaltsgemeinschaft und somit der gesetzlichen Vermutung gemäß § 9 Absatz 5 SGB II beweisen. Doch selbst wenn eine Haushaltsgemeinschaft tatsächlich vorliegen sollte bliebe eine Prüfung erforderlich, inwieweit hier Freibetragsgrenzen bei der Bestimmung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Verwandten zutreffend berücksichtigt wurden.